Was ist die H.Dv.12 und wie konnten wir sie vergessen?


Die Heeresdienstvorschrift 12 wurde 1912 von Kaiser Wilhelm II als erste gültige “Reitvorschrift” erlassen. Abweichungen von den dort niedergeschriebenen Bestimmungen und Grundsätzen waren strengstens untersagt. Diese Regeln wurden bis nach dem zweiten Weltkrieg befolgt, ehe Erweiterungen vorgenommen wurden. In ihren Grundsätzen sind diese Vorschriften aber auch heute noch in den Richtlinien für Reiten und Fahren der Deutschen Reiterlichen Vereinigung verankert.

Im Wesentlichen wurden Vorschriften verfasst, die die Gesunderhaltung und Losgelassenheit des Pferdes im Fokus hatten. Man hatte erkannt, dass die physische und psychische Losgelassenheit des Pferdes unabdingbar für eine reelle Versammlung und weitere Ausbildung eines jeden Pferdes ist. Ebenso die Losgelassenheit des Reiters und ein handunabhängiger Sitz dessen.
“Losgelassenheit ist die erste Vorbedingung für den Erfolg der gesamten Dressur”, ein Satz aus den Vorschriften, den Kurd Albrecht von Ziegner Oberst a.D. als essentiell beschreibt.

Heute sehen wir kaum mehr die Losgelassenheit als maßgeblich, vielmehr sind es eingerollte Pferdehälse und strampelnde Beine, verspannte Rücken und kraftvolle Hände. Ein Pferd durch den Einsatz von Sporen zu verletzen ist offiziell erlaubt. Ein Pferd bis zu zehn Minuten in Hyperflexion zu reiten ist offiziell erlaubt.
Es geht nicht mehr darum, dass das Pferd gesund und fit bleiben soll (man wollte es damals schließlich bis zum 18. Lebensjahr als Dienstpferd nutzen), sondern um Prestige, Erfolg und Geld. Ist das Pferd nicht fit, läuft es nicht wie gewünscht, so wird es entweder in eine Form gepresst oder eben einfach ausgetauscht.
Von den Richtlinien, die pro Pferd verfasst wurden, sieht man heute auf den Reitplätzen und in den Richterwertungen leider nicht mehr viel. Diese Diskrepanz ist vielen gar nicht bewusst und es wird sehr oberflächlich an die Ausbildung von Reitern und Pferden herangegangen.

Hat Euch jemand in der Reitschule damals erklärt, warum wir Pferde dressurmäßig trainieren? Dass sie die Hinterhand aktivieren und den Rücken frei schwingen lassen sollen? Was ein “handunabhängiger Sitz” ist oder eine halbe Parade? Was falsches Training für Konsequenzen mit sich bringt?
Wo sollen die gut und reell ausgebildeten Pferde heute herkommen, wenn es uns an fundierter Ausbildung der Reiter fehlt?
Oberflächlichkeit ist hier für mich das Wort der Stunde, sowie Manipulation, Profit und Scheinheiligkeit.
Dass die Losgelassenheit maßgeblich und unabdingbar für die Qualität aller folgenden Punkte der Skala der Ausbildung ist, scheint nicht mehr wichtig zu sein. Denn ein Pferd korrekt losgelassen zu reiten, ihm die Zeit zu geben, sich selbst tragen zu lernen, anstatt seine Halswirbelsäule zu manipulieren um einen schönen runden Hals zu sehen, bedarf Zeit und vor allem Wissen. Stattdessen sehen wir drei- und vierjährige Verkaufspferde “mit Turniererfahrung”. Die Vorbereitung eines Reitpferdes vom Boden aus durch Arbeit an der Hand ist weitgehend verloren gegangen.
Ein jeder kann sich ein Pferd kaufen und es reiten wie er will, unabhängig von seinen Kompetenzen und Erfahrungen.
Es ist traurig und mehr noch fatal, wie sich die Ausbildung von Reiter und Pferd in den letzten Jahrzehnten veränderte.

Es gibt immer mehr Menschen mit Pferden, aber immer weniger Pferdeleute. - Züchterspruch

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Eli (Samstag, 06 März 2021 17:53)

    Ich bin 51 Jahre alt und durch und durch eine Pferdefrau. In unserer Familie gab es immer Pferde und Pferdemenschen. Wir haben alles von der Pike auf gelernt und haben ein wirklich fundiertes Allgemeinwissen über Pferde und deren Haltung. Zu meiner Grundausbildung bei einem hochqualifizierten Ausbilder habe ich zusätzlich noch eine Ausbildung zur Mototherapeutischen Reitlehrerin gemacht wo ich ebenfalls mein Wissen über Pferde deren Verhalten, Anatomie etc. erweitern konnte. Meine Einstellung ist, dass man niemals aufhören sollte dazu zu lernen.
    Leider ist es in den letzten Jahren oder Jahrzehnten zur Mode geworden sich ein Pferd zu kaufen sobald man 3 Longenstunden hatte. Ich bin teilweise schockiert und sprachlos welche ahnungslosen Menschen sich junge, kranke, missbrauchte u.a. schwierige Pferde zulegen.
    Von diesen Menschen und ihren Pferden, die dafür nichts können, geht eine ungeheure Gefahr aus die leider unterschätzt wird. Mag es der 4jährige polnische Kaltblüter mit 800 kg sein der regelmäßig ausbüchst und über das Stallgelände rennt und nach Monaten immer noch nicht halfterführig ist oder die 10jährige Traberstute die jahrelang von Menschen missbraucht wurde und jetzt aus ihrer Fenster Box herausbeisst.
    Es ist unverantwortlich und leider ausser Kontrolle geraten was teilweise in den Freizeitreiterställen passiert und auf keinerlei Kritik stösst. Und kritisiert man als Wissender tut man besser daran so schnell wie möglich den Stall zu wechseln. Es macht kaum noch Spass ein Pferdemensch zu sein.
    Nicht besser ist es in den Sportställen mit ihren ganzen allwissenden Mädels die völlig Ressistent gegen jede Art von Selbstkritik und Reflektion sind. Arme Pferde !

  • #2

    Martina (Sonntag, 29 Mai 2022 14:03)

    Ich bin 56 Jahre und seit jeher pferdebegeistert, konnte mir als junger Mensch keine teuren Reitstunden leisten, bin aber immer geritten und habe auch immer versucht selbstkritisch zu sein, später bin ich springen geritten aber nie mit dem Gedanken zu gewinnen sondern mit reichte es völlig das Gefühl zu haben einen ordentlichen Parcours zu reiten. Nun züchten wir seit einigen Jahren und vor kurzem haben wir erstmals 2 Stuten zur Feldprüfung geschickt, wir waren sehr zufrieden wie unsere beiden das gemeistert haben aber sehr ernüchtert über die Konkurrenz. Fast alle Stuten waren bemuskelt wie es vielleicht ein 4-5 jähriges Pferd sein kann die Reiter hatte durchweg (auch die Fremdreiter) Sporen (bis hin zu Rädchen), die Pferde waren fast alle zu tief eingestellt nicht wie in der HdV12 beschrieben Nase vor und Kopf oben weil ein so junges Pferd den Hals noch zum ausbalancieren braucht. Unser Bereiter hatte keine Sporen sondern nur eine kleine Gerte, die Pferde präsentierten sich wie in der HdV12 beschrieben aber das stieß bei den Richtern und Fremdreitern nicht unbedingt auf positives. Wenn also falsches reiten und ausbilden zum Erfolg in Prüfungen führt dann muss es zwangsläufig in die falsche Richtung gehen. Heute wird in einen Maßsattel und die ganze Ausrüstung oft mehr Geld gesteckt als in das Pferd dessen Ausbildung und auch die Ausbildung des Reiters. Selbstkritik und Rücksichtnahme auf andere Reiter ist heute leider oft ein Fremdwort.

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